Grenzgänger zwischen Literatur und Kunst. Zur intermedialen Erweiterung des Übersetzungsbegriffs
Lange Zeit wurden die Werke doppelbegabter KünstlerInnen in der Literatur- und Kunstwissenschaft getrennt rezipiert. Um ihre zugrunde liegenden intermedialen Wechselwirkungen tiefergehend erforschen zu können, zieht Hélène Thiérard den sprach- und literaturwissenschaftlichen Begriff der (Selbst-)Übersetzung heran. Den Gewinn dieser theoretischen Aneignung soll eine Vergleichsstudie veranschaulichen, in welcher die Produktion von Raoul Hausmann sowie die von Günter Brus als Ganzes betrachtet werden.
Hausmann (1886–1971) und Brus (*1938) wechseln nicht nur von einer Ausdrucksform zur anderen, sondern schaffen vielmehr hybride Kunstformen, indem sie Techniken und Fragestellungen der einen in die andere überführen. In diesem Punkt haben sie viel Gemeinsames mit den SchriftstellerInnen, die von Werk zu Werk die Sprache wechseln, unter anderem durch Selbstübersetzung. Oft arbeiten diese an den Grenzen der jeweiligen Sprache und öffnen durch den hybridisierenden Sprachkontakt einen neuen Raum für literarische Schöpfung.
Hélène Thiérard studierte deutsche, englische und französische Literaturwissenschaft in Paris, Osnabrück und Berlin. Sie promovierte 2016 (Université Sorbonne Nouvelle/Universität Osnabrück) mit einer Arbeit über Raoul Hausmann, einen der Hauptakteure der Dada-Bewegung in Berlin. Ihre Dissertation geht der Frage nach der Fortschreibung eines Avantgarde-Projektes in Hausmanns literarischem Work-in-Progress Hyle nach. Dabei schlägt sie eine Brücke zwischen der bildkünstlerischen Produktion der dadaistischen Zeit Hausmanns und dessen literarischem Spätwerk.
Ihr aktuelles Forschungsinteresse gilt zeitgenössischen Formen literarischer Mehrsprachigkeit, das heißt translingualen Werken – die also auf Sprachhybridisierung beruhen –, und Werken, die aus der Praxis der (Selbst-)Übersetzung entstehen. Als Literaturübersetzerin veröffentlichte sie u.a. Werke von Franz Kafka (Zürauer Aphorismen), Raoul Hausmann (Hyle.Ein Traumsein in Spanien) und Günter Brus (Nach uns die Malflut) auf Französisch.
„Récits du moi entre les langues chez Yoko Tawada et José Oliver“ [Translinguale Selbsterzählungen bei Yoko Tawada und José Oliver], in: Cahiers d’Études Germaniques, n°74 (2018), „Matérialités de la narration“, im Erscheinen; „Le projet Hylé, un work in progress autobiographique“ [Das Hyle-Projekt, ein autobiografisches Work-in-Pro- gress], in: Annabelle Ténèze (Hg.), Raoul Hausmann, Dadasophe – de Berlin à Limoges (= Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Musée départemental d’art contemporain de Rochechouart), Paris 2017, S. 93–98; „Du photomontage au montage de matériau textuel: Hyle I, de Raoul Hausmann“ [Von der Fotomontage zur literarischen Montage: Raoul Hausmanns Hyle I], in: Sascha Bru und Benedikt Hjartarson (Hg.), The Aesthetics of Matter. Modernism, the Avant-Garde and Material Exchange, Berlin 2013, S. 347–358.
Als Literaturübersetzerin: Raoul Hausmann: Hylé. État de rêve en Espagne, von Hélène Thiérard übersetzt, Éditions Les presses du réel, Dijon 2013; Günter Brus: Pictura jacta est! von Hélène Thiérard gemeinsam mit Catherine Henry übersetzt, Éditions Absalon, Nancy 2010.
Raoul Hausmann experimentiert zwischen 1918 und 1921 mit Fotomontage, Lautpoesie und Tanz, bevor er ab Ende der 1920er-Jahre ein bedeutendes fotografisches und literarisches Werk entwirft. Anhand eines erweiterten Übersetzungsbegriffs stellt Hélène Thiérard die intermedialen Wechselwirkungen, die sein Gesamtwerk durchlaufen, vor.