Historical Urban Multilingualism in East Central Europe: Łódź around 1900
Die autochthone Bevölkerung vieler mittel- und osteuropäischer Städte war bis zum Zweiten Weltkrieg mehrsprachig. Einige haben dabei nostalgische Vorstellungen einer vermeintlich harmonischen multikulturellen Vergangenheit. Viele andere verbinden damit konfliktreiche nationale Antagonismen und hegemoniale Unterdrückung mit einer dominanten Sprache. Trotz Ideologien und Politik ging das alltägliche Leben weiter. Moderne Städte bedurften des intensiven Kontakts zwischen ihren Einwohnern und Einwohnerinnen, etwa am Arbeitsplatz, zur Bereitstellung von Dienstleistungen, in Wirtschaft und Handel, lokaler Verwaltung, in der Freizeit und zur Gründung einer Familie. Für diese Zwecke war es häufig unumgänglich für Sprecher verschiedener Sprachen, miteinander auf die eine oder andere Weise zu kommunizieren.
Wir wissen aber wenig darüber, wie dies in der Praxis funktionierte, in den Fabriken und Werkstätten, den Büros, in Mietshäusern, auf den Straßen, Märkten und in den Gasthäusern einer historisch gewachsenen mehrsprachigen Stadt. Ein Beispiel ist die polnische Industriestadt Łódź, die manchmal als das „polnische Manchester“ bezeichnet wird. Łódź war bis zum Ersten Weltkrieg unter russischer Herrschaft und dann Teil der Zweiten Polnischen Republik. Die städtische Bevölkerung war polnisch-, jiddisch-, deutsch- und russischsprachig. Mithilfe soziolinguistischer Methoden und Konzepte lassen sich Fragmente dieser Mehrsprachigkeit im historischen Kontext rekonstruieren. Ein reiches Quellenmaterial zu diesem Zweck bieten gerichtliche Kriminalakten der Zeit. Sie erlauben Einblicke in das Alltagsleben im historischen Łódź und die mehrsprachigen kommunikativen Praktiken unter den Einwohnern und Einwohnerinnen. Manche von ihnen waren zwei- oder sogar dreisprachig, andere behalfen sich mit sprachlichen Mischformen, während in offiziellen Kontexten mitunter Übersetzungen angefertigt wurden. Die gelebte urbane Polyglossie war flexibel und effizient, aber gleichermaßen war sie ein Ausdruck der sozialen Ungleichheit und des politischen Konflikts.
Jan Fellerer hat Slawistik in Wien studiert, mit Auslandssemestern in Prag und Krakau. Nach einigen Jahren an der Universität Basel wechselte er an die Universität Oxford, Wolfson College, als lecturer, dann als associate professor in slawischen Sprachen. Er beschäftigt sich vor allem mit der Geschichte und Struktur von west- und ostslawischen Sprachen, insbesondere des Polnischen, Tschechischen und Ukrainischen.
Urban Multilingualism in East-Central Europe: The Polish Dialect of Late-Habsburg Lviv (=Studies in Slavic, Baltic, and Eastern European Languages and Cultures, Lanham/MD), London 2020; ed. with R. Pyrah, Lviv and Wrocław, Cities in Parallel? Myth, Memory and Migration, c. 1890–present, Budapest 2020; ed. with R. Pyrah and M. Turda, Identities In-Between in East-Central Europe (=Routledge Histories of Central and Eastern Europe), London/New York 2019; Mehrsprachigkeit im galizischen Verwaltungswesen (1772–1914). Eine historisch-soziolinguistische Studie zum Polnischen und Ruthenischen (Ukrainischen) (=Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte 46), Cologne/Weimar 2005.
4 May 2021, 4pm (CET), via Zoom (link to be confirmed)
Lecture of Jan Fellerer:
Hybrid linguistic identities in 19th century L’viv
Language mixing is an important component of the linguistic landscape in Ukraine to the present day. It is controversial too, as the discussions about so-called suržyk show. Linguistic hybridity, however, has a long history in Ukraine and elsewhere. It is an expected outcome of language-contact settings, even though it varies greatly depending on the historical context.
This talk will focus on historical L’viv and its suburbs with its intense and long-standing Ukrainian-Polish-Yiddish language contact. In writing, Church Slavonic remained an important point of reference well into the 19th century too. This produced forms of language mixing and hybrid linguistic identities that can be shown to be a direct reflection of the social fabric of the city. The close link between linguistic practice and social identity is well known and amply researched for contemporary settings. However, it is rarely applied to historical contexts. The talk is a contribution to try and redress this imbalance.
Jan Fellerer is Associate Professor in Slavonic Languages, University of Oxford, Wolfson College, currently Senior Fellow at the Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Kunstuniversität Linz in Wien
Associate Professor in Slavonic Languages, University of Oxford, Wolfson College, currently Senior Fellow at the Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Kunstuniversität Linz in Wien
Kolloquium Slavistische Linguistik (online)
Jan Fellerer (Oxford, Wien):
Sprachinterner vs. kontaktbedingter morphosyntaktischer Wandel: Das ‘Genus virile’ im polnisch-ukrainischen Sprachkontakt
Einer der zahlreichen morpho-syntaktischen Eigenheiten der sog. östlichen ‘Randdialekte’ des Polnischen (‘polszczyzna kresowa’) besteht darin, dass die Flexion der maskulinen Substantive im Unterschied zum Standardpolnischen kein ‘Genus virile’ unterscheidet. Zugleich bleibt aber auch in diesen Dialekten die allgemeinpolnische Kategorie der Belebtheit weiterhin intakt. Dies entspricht den grammatikalischen Gegebenheiten der unmittelbar benachbarten ostslavischen Sprachen, insbesondere des Ukrainischen. Der sich anbietende Schluss, die Erosion des ‘Genus virile’ im (süd)östlichen ‘Randpolnischen’ als Ukrainismus zu verstehen, erweist sich allerdings als vorschnell, weil ähnliche Erscheinungen auch in anderen polnischen Dialekten zu beobachten sind, und weil die Belebtheitskategorie im ‘Randpolnischen’ im Detail anders ausgestaltet ist als im Ukrainischen. Der Vortrag geht daher der Frage nach, ob die spezielle Entwicklung des ‘Genus virile’ im ‘Randpolnischen’ letztlich als dialektinterner oder doch als kontaktbedingter morpho-syntaktischer Wandel zu verstehen ist.
Jan Fellerer hat Slawistik in Wien und Basel studiert. Er ist associate professor am Wolfson College der Universität Oxford und derzeit als Fellow des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien tätig. Seine Forschungsschwerunkte liegen insbesondere auf der Geschichte und Struktur der west- und ostslawischen Sprachen.
Mittwoch, 19. Mai, 16:00–17:30
Gäste sind herzlich willkommen. Ein Zoom-Link wird auf Anfrage (s. Kontakt) gerne zur Verfügung gestellt.
Kontakt: dolores.lemmenmeier@uzh.ch, florian.wandl@uzh.ch
This lecture focuses on Polish-Jewish-German-Russian Łódź around 1900. It argues that the right sources and their analysis can shed light on how the city’s historical multilingualism worked in actual practice.