Persephone in Zeiten der Anorexie. Abmagerung und Essensverweigerung in Mythos, Psychoanalyse und zeitgenössischer Poesie
In Essstörungsmemoiren und -gedichten und in Fachliteratur über Anorexie und Bulimie lässt sich seit den 1980er-Jahren ein kurioses Rezeptionsphänomen beobachten: Die griechisch-römische Göttin Persephone mutiert zur Essstörungsikone, zur Fallgeschichte und zum Erklärungsmodell für moderne psychische Krankheitsdiagnosen. In der Folge wird Demeter als Helikoptermutter dargestellt, der Vergewaltiger Hades als Motor hinter Persephones Emanzipation, und der verspeiste Granatapfel als selbstermächtigender Schritt zur Genesung. Diese Neuschreibungen folgen einer gewissen Logik: Essenssymbolik und Widerstand durch Nahrungsverweigerung spielen schon in den antiken Mythosversionen eine Rolle. Die Arbeit untersucht Essen, Körperlichkeit und Verweigerung in den antiken Versionen und fragt nach den Rezeptionsstrategien, Risiken und Wirkungen von anorektisch-bulimischen Neuschreibungen. Das Projekt steht damit an der Schnittstelle von Medical Humanities, Gender Studies und Antikenrezeption.
Sophie Emilia Seidler ist Doktorandin an der Graduiertenschule Sprache & Literatur der LMU München. Ihre Arbeit verbindet Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften und Klassische Philologie, die beiden Fächer, die sie auch auf BA- und MA-Niveau an der FU Berlin, der Universität Wien und im Rahmen eines Fulbright-Scholarships an der University of Washington, Seattle, abgeschlossen hat. Sie absolvierte Forschungsaufenthalte in Berkeley (2023) und Stockholm (2019). Sie ist Mitherausgeberin des Bandes Körperliche und pflanzliche Poetik. Florale Literatur zwischen Mensch und Blume (Bielefeld 2025) sowie der Nachwuchszeitschrift eisodos – Zeitschrift für Antike, Literatur, Rezeption und Theorie. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Gender und Feminismus, Rezeption, Psychoanalyse, Medical Humanities, Psychoanalyse, Askese, Plant Studies, Posthumanismen, Food Studies und nicht-normative Körperkonzepte.
with Hannes Mittermair, »Einleitung. Blumige Körper und körperliche Blumen von der Antike bis in die Gegenwartsliteratur,« in: with Q. Cai, H. Mittermaier, and M. Fingado (eds.), Körperliche und Pflanzliche Poetik. Florale Literatur zwischen Mensch und Blume, Bielefeld 2025, pp. 7–22.
»Cato amator. Generic Hybridity, Monstrous Transgressions, and Elegiac Emasculation in Lucan’s Libyan Tale (Bellum Civile 9),« in: C. Schwameis and B. Söllradl (eds.), Gattungstheorie und dichterische Praxis in neronisch-flavischer Epik, Berlin 2023, pp. 69–90.
»Perséphone sur le divan. L’anorexie et la quête d’une agentivité féminine dans le mythe et la psychanalyse,« in: Cahiers du Genre 74, 2023, pp. 93–126.
»Bitches and Witches. Grotesque Sexuality in Ovid’s Scylla (Met.13.730-14.74),« in: Acta Iassyensia Comparationis 29, no.1, 2023.
»Faim d’individualité. Une poétique anorexique dans le mythe de Perséphone,« in: B. LeJuez and M. Zupančič (eds.), Le mythe au féminin et l’(in)visibilisation du corps, Leiden and Boston 2021, pp. 179-201.
More than a century after Freud’s Oedipus, the combination of psychiatry and Greek mythology is not quite common practice. Yet, recent decades have transported the goddesses Persephone and Demeter into modern mental health discourses.