02 Dezember 2021
  • Lecture Series
MUKmeetsIFK@Zoom
Isabel Mundry

Die Geste des Hörens im Komponieren

18:15

 

In Kulturen, deren Musik von Ohr zu Ohr, also ohne Notation weitergetragen wird, wirkt die Praxis eines Aufführens durch das Erinnern auf die musikalische Zeitgestalt ein. Die Gregorianischen Gesänge des Mittelalters sind ein Beispiel dafür, wie sich das Zusammenspiel zwischen dem Hervorrufen, Vergegenwärtigen und Erneuern in den Strukturen akustisch abbildet.

Diese Musik bildet Schemata aus, die verbindlich genug sind, um erinnerbar zu sein, und offen genug, um Neues eindringen zu lassen. Daraus ergeben sich komplexe Formen zwischen dem Ritualisierten und dem Einmaligen. Es ist eine Musik des Zuhörens in zweifachem Sinne: Das einst Gehörte wird aufgerufen, und das Hören im Jetzt ermöglicht seine Transformation. Seit der Notation von Musik hat sich eine andere Idee des Hörens ausgebildet, weniger ausgerichtet auf das Vergangene und das Jetzt der Performance als auf das Kommende. Sie verbindet sich mit dem Imaginieren einer noch ungehörten Musik und einhergehend damit mit dem Ideal neuer, autonomer Strukturen und Formen. In den vergangenen Jahren haben Isabel Mundry Werke aus den bildenden Künsten und dem Theater sowie Eindrücke aus ihrer akustischen Umwelt dieses Ideal kritisch überdenken lassen. Seither arbeitet sie kompositorisch an Formen, die das Hören im Sinne eines Aufgreifens und Weitertragens wieder aufwerten, ohne auf das Schreiben von Partituren zu verzichten. Dafür bedarf es auch einer Revision der Idee, was kompositorische Techniken zu leisten haben. Die Gregorianischen Gesänge dienen ihr hier als Vorbild wie auch das Spätwerk von Samuel Beckett, das vergleichbare Modelle des Hörens im Medium der Schrift ausbildet.

 

Isabel Mundry, Komponistin, lehrt seit 2004 Komposition an der Zürcher Hochschule der Künste, seit 2011 zudem an der Hochschule für Musik und Theater München. Ihr Werk umfasst zwischen der Kammermusik und dem Musiktheater alle Gattungen und ist immer wieder interdisziplinär ausgerichtet. Ihre Kompositionen wurden u. a. von Ensemble Intercontemporain, Arditti Quartet, Chicago Symphony Orchestra, Ensemble Modern, Ensemble Resonanz, der Musikfabrik NRW, London Sinfonietta und den Berliner Philharmonikern aufgeführt. Sie war Composer in Residence u. a. beim Lucern Festival, Gstaad Menuhin Festival, Takefu Festival (Japan), den Biennalen Lyon und Salzburg sowie bei der Staatskapelle Dresden. Sie ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz.

 

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