Rand und Mitte – die losen Enden der Welt
Das Humboldt-Forum in Berlin wird wahrscheinlich ein Musterbeispiel dafür sein, wie westliche Gesellschaften sich im beginnenden 21. Jahrhundert ihre historischen Ränder zu Spiegeln ihrer selbst gebogen haben. Das Verhältnis von Rand und Mitte wird hier neu eingestellt.
Im Verhältnis nach außen gilt insbesondere das indigene Andere als gegen alle Befragung immune Instanz einer vermeintlich kritischen Selbstbestimmung. Restitution ist das Zauberwort des Augenblicks: Die Frage aber ist, ob die Rückgabe nicht zugleich auch eine Rücknahme ist? Ungewollt wirft diese Art nachholender Gerechtigkeit jedes Volk auf sich selbst zurück: Den einen bleiben die Verbrechen, den anderen die hingeworfenen losen Enden dieser Vergangenheit, deren Inspiration für die gegenwärtigen afrikanischen Gesellschaften ungewiss ist. Und im Innern hat das Partikulare den leeren Platz des Allgemeinen eingenommen. Als Referenz spielt die Ethnologie in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. Vor diesem Hintergrund sollen Wahrnehmung und Selbstverständnis des Weltmuseums in Wien mit Blick auf die österreichische Gesellschaft untersucht werden.
Michael Jeismann ist Historiker und Journalist. Er studierte insbesondere bei Reinhart Koselleck, bei dem er 1991 über den Zusammenhang zwischen der Idee des modernen Nationalstaats und der Entstehung radikaler Feindschaft im deutsch-französischen Vergleich promovierte. Anschließend ging er als Redakteur ins Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er intensiv über die Auseinandersetzungen des wiedervereinigten Deutschlands um das Gedenken an den Holocaust und die Gegenwart der Bundesrepublik schrieb. Im Jahr 2002 habilitierte er sich an der Universität Basel im Fach Geschichte. Bevor er die Zeitung verließ, um als Leiter der Kommunikationsabteilung des Goethe-Instituts 2008 zu arbeiten und dabei eine Behörde von innen kennenzulernen, gab ihm ein Stipendium von Berthold Beitz und der Krupp-Stiftung die Freiheit, eine Weltgeschichte interkultureller Paare zu beginnen. Von 2012 bis 2017 leitete er das Goethe-Institut im Senegal. Heute ist er freischaffend.
Die Freiheit der Liebe. Paare zwischen zwei Kulturen, München 2019; Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, Stuttgart, München 2001; gem. mit Reinhart Koselleck (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994; Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918,Stuttgart 1992. (Franz.: La Patrie de l’Ennemi – La notion d’ennemi national et la représentation de la nation en Allemagne et en France de 1792 à 1918, Paris 1998)
Nichts gebe so verlässlich Auskunft über die Spaltungen und Schichtungen einer Gesellschaft wie die Ehen, stellte Alexis de Tocqueville 1856 im fünften Buch seines epochalen Werks „Der alte Staat und die Revolution“ fest. Noch sechzig Jahre nach der Großen Revolution in Frankreich verhinderten die „alten“, vorrevolutionären Eliten und die „neuen“ Familien, die nach der Revolution zu Geld und Einfluss gelangt waren, zuverlässig, dass zwischen ihren Kindern Ehen geschlossen wurden. Von Perikles’ Staatsbürgerschaftsgesetz aus dem Jahr 450 v. Chr. bis heute: Wer wen heiratete und heiraten durfte, betrifft bis heute die Identität ganzer Gesellschaften. Es erzählt davon, wer dazugehören darf und wer nicht.