06 Oktober 2014
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ORDNUNGSDENKEN UND DYNAMISCHE ANTHROPOLOGIE. ARNOLD GEHLEN ALS PHILOSOPH UND SOZIOLOGE IM „JAHRHUNDERT DER EXTREME“

Arnold Gehlen gehört zu den Hauptautoren der Philosophischen Anthropologie, die von Max Scheler und Helmuth Plessner am Beginn des 20. Jahrhunderts begründet worden war. Bekannt ist seine Bestimmung des Menschen als „Mängelwesen“, die biologisch umstritten ist. Gehlens Angst vor dem Chaos im Inneren des Menschen und in der vom menschlichen Handeln mitbestimmten Welt begründete einen Konservatismus, der in merkwürdigem Widerspruch zu seiner dynamischen Anthropologie steht, konstatiert Karl-Siegbert Rehberg in seinem Vortrag.


Vor der Veröffentlichung seines anthropologischen Hauptwerkes „Der Mensch“ im Jahre 1940 hatte Gehlen seinen philosophischen Standort mehrfach gewechselt: Formelhaft kann man die von ihm eingenommenen philosophischen Positionen existenzial-phänomenologisch, objektiv-idealistisch und erfahrungswissenschaftlich-anthropologisch nennen. Gleichwohl war ein Grundmotiv seines gesamten Lebenswerkes die Frage, wie die existenzbedrohte und schwankende, „entartungsbereite“ menschliche Spezies überleben könne. Für dieses „Kulturwesen von Natur aus“, das die tierische Instinktsicherheit verloren hat, bedürfe es des kompensatorischen Instinktersatzes durch die Institutionen. Das war der zentrale Ausgangspunkt in „Urmensch und Spätkultur“ (1956), in dem Gehlen die rituellen Grundlagen aller Institutionalisierung aufzeigt. Von Anbeginn an hatte er seine Gelehrsamkeit immer auch politisch adressieren wollen (zuletzt 1969 in „Moral und Hypermoral“). Dabei geht der Reichtum seiner Funde nicht im Politischen auf. Rückblickend zeigt sich, dass etwa Gehlens Anthropologie der Plastizität des Menschen, der Variabilität seiner kulturellen Formen, des Reichtums seiner Sprachfähigkeit, die durch neueste Ergebnisse der Biologie, Gehirnphysiologie oder auch Primatologie durchaus Bestätigung findet, in der Rezeption allzu oft verdeckt wird durch seinen autoritativen und autoritären Gestus. Das wurde auch dadurch befördert, dass er in geradezu stereotyper Weise zu einem exemplarischen Beispiel der Kontinuitäten zwischen NS-Zeit und westlichem Nachkriegsdeutschland wurde. So hat wider Willen die Politik den Zugang zu seinem Werk bis heute erschwert. Überraschend mag sein, dass sich der konservative Denker für die „peinture conceptuelle“ des Kubismus und anderer Neuerer begeisterte („Zeit-Bilder“, 1960), was ihm den Beifall von intellektuellen Kontrahenten wie Theodor W. Adorno oder Helmuth Plessner eintrug, während Georg Lukács als Theoretiker des Realismus diese Kunstsoziologie der Moderne als zu „modernistisch“ ablehnte.

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