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»Der Mensch wird als Mängelwesen begriffen«

Christof Windgätter Wie werden autonome Fahrzeuge, sofern sie Realität werden, unser Menschenbild verändern? Der Berliner Medientheoretiker Christof Windgätter untersucht die anthropologische Bedeutung der Zukunftstechnologie.   INTERVIEW: Alois Pumhösel


 
Passagiere autonomer Autos brauchen „Passivkompetenzen“ – sie sollen entspannen, arbeiten oder sich digital unterhalten lassen. Hinter technologischen Zukunftsvisionen steht immer auch ein bestimmtes Menschenbild. Der Medientheoretiker Christof Windgätter greift diesen Gedanken auf und betrachtet autonome Fahrzeuge aus anthropologischer Perspektive. STANDARD: Hat ein Umstieg auf selbstfahrende Autos tatsächlich anthropologische Relevanz?   Windgätter: Wenn wir in hochgradig automatisierte Autos einsteigen, sind wir auf eine andere Art Mensch als in jenen Zeiten, in denen wir Autos noch manuell gesteuert haben – ja, davon gehe ich aus. Man muss bei der Frage, welches Menschenbild der neuen Technologien innewohnt, allerdings einige Dinge vorausschicken: Die anthropologische Betrachtung ist sehr spezifisch – neben soziologischen, psychologischen oder technikgeschichtlichen Ansätzen ist sie nur eine von vielen Möglichkeiten, an das Thema heranzugehen. Zudem muss klar sein, von welchem Automatisierungsgrad man spricht. Vollständig autonomes Fahren gibt es bisher nur auf abgeschlossenen Geländen und Teststrecken. Im alltäglichen Stadtverkehr ist es heute weder machbar noch erlaubt. In der Diskussion werden Fakten und Fiktion häufig vermischt.   STANDARD: Wie lässt sich das Menschenbild der bisherigen Autokultur umreißen?   Windgätter: Für eine automobilisierte Gesellschaft sind Zugewinne an Freiheit, Unabhängigkeit und Individualität durch das Auto wesentlich. Das klassische Fahren vermittelt die Erfahrung von Aktivität, von der Autonomie des Individuums. Es gibt die Lust am Fahren und an verschiedenen Fahrstilen – etwa sportliches Fahren. Viele der Zuschreibungen stehen im Zusammenhang mit einer Genderfrage. Klassische Erscheinungsweisen von Autos appellieren oft an ein heroisches Männerbild, an männlich konnotierte Vorstellungen von Technikbeherrschung und Geschwindigkeit. In früheren Jahrzehnten wurde ein „sportliches und spartanisches“ Ideal vorgeprägt, das Fahren noch als Handwerk versteht. Es soll sich direkt anfühlen, ohne große Annehmlichkeiten. Der Spartaner ist eine Kriegerfigur, die Straße auch ein Kampfgebiet. Hier werden Aggressionen ausgelebt – trotz der Möglichkeit von Unfällen und Verkehrstoten. Es ist also auch ein gefährliches, riskantes Unternehmen.   STANDARD: Wie verändert sich das Bild nun bei der Vision des autonomen Fahrens?   Windgätter: Die Konzepte sehen in der Regel kein Lenkrad mehr vor. Die Passagierkabinen werden zu Wohnzimmern. Sie sind bequem, haben einander zugewandte Sitze. Man kann sich hinlegen, es wird eine bestimmte Licht- und Musikstimmung erzeugt. Natürlich kann man das Auto auch als Büro nutzen. Im Unterschied zum traditionellen Fahren muss man sich beim delegierten Fahren – ganz allgemein gesagt – neue Passivkompetenzen aneignen. Die Visionäre in den Autokonzernen schlagen Entspannung, Arbeit und Konsum von digitaler Unterhaltung dafür vor. Klassisch tragen Automobile zum Selbstbild ihrer Besitzer bei – auch dafür braucht es Alternativangebote.   STANDARD: Taugen autonome Fahrzeuge wie heutige Autos noch als Statussymbole?   Windgätter: Bisher binden viele Autobesitzer ihre Identität an Marken oder sogar nationale Vorurteile. Man ist Mercedes- oder Audifahrer, man kauft vielleicht prinzipiell keine Japaner. Das fällt bei autonomen Autos weg, die man aus einem Carsharing-Pool für eine Fahrt herbeiruft. Auch dafür soll es Alternativen geben. In der Literaturwissenschaft gibt es den Begriff des postheroischen Erzählens. Damit werden narrative Muster beschrieben, die nicht mehr einen Helden, sondern diversifizierte Personenkonstellationen, hybride Kollektive, in den Vordergrund stellen. Beim autonomen Fahren gibt es nun auch Überlegungen zu einer postheroischen Autokultur, in die sich das Individuum integriert. Wir hätten es also mit einem Menschenbild zu tun, das nicht mehr auf diese dramatische Einzelfigur abstellt, sondern eine Figur, die die Aktivität abgeben und teilen wird. Gleichzeitig findet mit dieser Delegierung des Fahrgeschehens auch eine Enthierarchisierung im Auto statt.   STANDARD: Wie ist das zu verstehen?   Windgätter: Klassisch haben wir einen Fahrer, der bestimmt, wo es langgeht, einen Beifahrer, der vielleicht navigiert, sowie Passagiere, die am Fahrgeschehen nicht beteiligt sind. Es gibt also eine Aufgabenverteilung, die verschwindet. Die Insassen eines Autos haben nun ein anderes Verhältnis zueinander. In diese neue Form des automobilen Menschseins wird man hineinfinden müssen. In unserer Gesellschaft überlegen wir aber immerhin bereits seit langem, wie durch Automatisierung neue Akteure entstehen und deren Handlungen neu verteilt werden.   STANDARD: Mit der Digitalisierung des Autos wird auch die Überwachungsdebatte Teil der Mobilität. Welche Konsequenzen hat das?   Windgätter: Das Fahrzeug überwacht nicht nur die Verkehrsumgebung, sondern auch die Insassen. Sie müssen sich ein Stück weit transparent machen. Das hat eine politische Dimension, die man mit Foucaults Gouvernementalität in Zusammenhang bringen kann – also der Frage, wie wir regiert werden wollen. Das Thema ist bekannt: Wie viel Einblick sollen Staaten, Institutionen, Konzerne in unsere Daten haben. Dazu kommt eine ökonomische Dimension. Autonome Autos werden wohl den Plattformgedanken der Digitalkonzerne übernehmen. So wie Telefonieren nur eine von vielen Funktionen am Handy ist, wird das Transportieren nur eine Anwendung des Autos sein – vielleicht gar nicht die wichtigste. Menschen sind nicht mehr nur körperliche oder geistige Wesen, sie sind hier vor allem Datenquellen. Auch das wäre eine neue anthropologische Bestimmung.   STANDARD: Autonomes Fahren verändert auch die Schnittstellen zwischen Mensch und Technologie im Auto fundamental. Was bedeutet das für die Fahrzeugpassagiere?   Windgätter: Heute ist der Bildschirm eine entscheidende Schnittstelle. In seiner aktuellen Form wird wohl aber auch er verschwinden. Die Technik soll unscheinbar werden, sodass man sie kaum bemerkt. Schnittstellen werden in die Oberflächen des Autoinnenraums integriert. Der Autositz erkennt die Person darin und stellt sich automatisch ein. Passagiere interagieren mit der Technik vielleicht nur durch Gesten. Auch diese „Verumweltlichung“ der Technik hat Auswirkungen auf das Menschenbild. Die Technik ist darauf ausgerichtet, die Insassen zu betreuen – vielleicht ohne dass sie es merken. Der Mensch wird als Mängelwesen begriffen, dessen Defizite kompensiert werden müssen. Medientheoretiker sprechen hier von anthropophilen, also menschenfreundlichen Medien. Das Delegieren der Fahrfertigkeiten trägt auch dazu bei, dass man diese verliert – man muss den Verkehr nicht mehr einschätzen können, nicht mehr mit Pedalen umgehen. Es könnte etwa sein, dass eine Oldtimerszene Zulauf bekommt, um die alte Tätigkeit als Freizeitaktivität wieder aufleben zu lassen – vergleichbar mit dem heutigen Boom bei Langspielplatten. CHRISTOF WINDGÄTTER ist Professor für Medientheorie an der Berliner University of Europe for Applied Sciences und Principal Investigator an der Humboldt-Universität Berlin. Derzeit ist er Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunst-Uni Linz. Am 17. Jänner hält er einen Online-Vortrag zur „Anthropologie des Automobilismus“. Anmeldung unter www.ifk.ac.at Foto: IFK
 
Medium: Der Standard