Es ist nicht mehr von der Hand zu weisen, dass die ungeheure Mobilmachung von Menschen, Dingen und Natur, die mit der Neuzeit einsetzte, eine der größten Herausforderungen, vielleicht aber auch Rätsel der Gegenwart bildet. Ein Rätsel gibt uns die Kapitalisierung und Mobilmachung von Ressourcen deshalb auf, weil die daraus folgenden Zerstörungskräfte inzwischen unübersehbar sind, eine Postwachstumswelt auch schon in groben Zügen skizziert worden, der Weg dahin jedoch noch nicht gebahnt ist bzw. als politisch äußerst schmerzhaft imaginiert werden muss. Von sozialökologischer Seite wird argumentiert, dass eine solche »Demobilisierung« nur mit Hilfe sehr grundsätzlicher ökonomischer und kultureller Transformationen erreicht werden könnte, was auch das Selbstverständnis der liberal-bürgerlichen Mittelschichten erschüttert. Rechtspopulismus und Nationalismus sind die jetzt schon auffälligen Symptome dieser Verunsicherung.
Historisch betrachtet ist jedoch Globalisierung weder ein räumlich homogenes Phänomen noch ein zeitlich kontinuierliches. Die Effekte globaler Wechselwirkungen kommen stets lokal zum Tragen, sind also glokal. Selbst die mobilsten Elemente, allen voran die Finanzmärkte, verbinden sich mit situierten kulturellen und ökonomischen Praktiken. Kosten und Nutzen werden nach wie vor hochgradig ungleich verteilt. Seit der neuzeitlichen Kolonisierungswelle ab dem 16. Jahrhundert lassen sich zudem Phasen der Ausbreitung (Feldzüge, Handel, Mission), der Rezentrierung (etwa durch imperiale Machtkonzentrationen) und auch der Deglobalisierung (etwa nach Marktzusammenbrüchen) beobachten. Diese Effekte betreffen ökonomische, geopolitische, aber auch kulturelle Prozesse (Sprachpolitik, politische Diskurse der Nationalisierung etc.).
So gut wie alle aktuellen politischen Problemkonstellationen stehen mit diesen Wechselwirkungen in Zusammenhang. Ob es um Asyl- oder Sicherheitspolitik geht, um Seuchenbekämpfung, um Klimapolitik: Nichts davon ist denkbar, ohne die lange Geschichte der Globalisierung an konkreten Orten mit ins Auge zu fassen. Inzwischen geht es längst nicht mehr nur darum, Mobilität technisch und kulturell nachhaltiger zu gestalten, sondern auch um aktiven Einsatz für ein mögliches Bleiben: Menschen und Tiere sollen vor Vertreibung geschützt werden; und wenn sie fliehen mussten, soll ihnen das Ankommen erleichtert werden. Wie verändern diese Bedingungen unsere Perspektiven auf Mobilität? Auf den globalen Warenverkehr? Aber auch auf »Indigenität«? Auf Zugehörigkeit? Auf Zurechenbarkeit? Auf den Zusammenhang zwischen Biopolitik und Mobilität? Auf Technologien, Designprozesse, Infrastrukturen? Welche Sprachen wird eine zukünftig glokale Welt-Literatur sprechen? Wie kann Vulnerabilität, derzeit in erster Linie ein weiterer Ungleichheitseffekt, zu einem Ankerpunkt von Selbstbeschränkung und geteilter Sorge werden? Welche Rolle werden Geschlecht, Sexualität und Körperlichkeit, Lohn- und Sorgearbeit in der Transition und in einer Postwachstumsgesellschaft spielen? Welche Zeitregimes und Vorstellungen von Zeit, von Anfang und Ende, von Dauer und Geschwindigkeit werden sich epistemisch und lebensweltlich behaupten oder durchsetzen? Welche Begriffe können diese komplexen Prozesse erfassen, ohne einen falschen Konsens oder eine neue Teleologie zu implizieren?
Der Forschungsschwerpunkt Situiert im Globalen geht solchen und ähnlichen Fragen explorativ und interdisziplinär nach. In Tiefenbohrungen und lateralen Blicken sollen historische und kulturelle Konstellationen und Konjunkturen untersucht werden.
Ein weiterer Forschungsschwerpunkt wird unter dem Titel: Andere Arbeit aufgebaut. Dieses Thema soll Bewerber*innen einladen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen, technologischen und ökonomischen Entwicklungen der Arbeitswelt auseinandersetzen. Wir werden in Zukunft vermutlich andere Arbeit verrichten; diese Erwartung wird mit Ängsten und Utopien zugleich assoziiert. Doch schon das »wir« bleibt diffus: Wer ist wir? In welchen Ländern und Kulturen? Männer oder Frauen? Kinder oder Alte? Arme oder Reiche?
Das Spektrum möglicher Projekte ist weit. Andere Arbeit: Der Titel bezieht sich also auf Veränderungen der Arbeitswelt, die teilweise bereits beschrieben und imaginiert wurden, etwa den Wandel postindustrieller Gesellschaften zu Dienstleistungsgesellschaften oder die zunehmende Subjektivierung von Arbeitsbiografien, die sich in Reden von »Ich-AGs« oder dem »unternehmerischen Selbst« (nach Ulrich Bröckling) ausdrücken. Andere Arbeit kann auf Debatten um technologische Perspektiven – Stichworte: Digitalisierung, Automatisierung, künstliche Intelligenz – bezogen werden; darum hat das deutsche Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Oktober 2018 eine »Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft« eröffnet. Daran schließt sich die Frage an, ob und wie denn überhaupt »Arbeitsgesellschaften« bleiben werden? Oder wird sich die Prophezeiung des Ökonomen John Maynard Keynes erfüllen, der bereits im Sommer 1930 voraussagte, wir würden 2030 nur noch fünfzehn Wochenstunden mit Arbeit verbringen? Ähnliche Utopien haben übrigens bereits Benjamin Franklin, Karl Marx oder John Stuart Mill formuliert. Wie wird dann das Andere der Arbeit aussehen? Welche Gestalt werden Konzepte der Freizeit, des Urlaubs oder des Konsums annehmen?
Wie würden die Kulturen und ökonomischen Ordnungen eines Zeitalters der Muße aussehen? Müssen wir über eine »Rettung der Arbeit« (Lisa Herzog) nachdenken oder über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (Rutger Bregman)? Würde ein solches Grundeinkommen – unter welchen Bezeichnungen auch immer – zu Prozessen der Renationalisierung oder zu anderen Arten von Globalisierung, etwa zu einer Stärkung globaler Institutionen, beitragen? Für eine Kunstuniversität ist daneben die Frage besonders interessant, welche Schnittflächen zwischen neuen Formen der Arbeit – etwa in den vielzitierten Start-Ups, New Work-Organisationen oder Plattformökonomien – und den Gestalten künstlerischer Praxis zu entstehen scheinen. Wie werden künftige Arbeitsplätze aussehen? Welche Arbeitsarchitekturen werden dann dominieren? Büros, Fabriken, Plantagen, Bergwerke, Labors, Ateliers?
Nicht umsonst reüssiert Kreativität schon seit Jahrzehnten nicht mehr bloß als programmatischer Begriff der Künste, sondern geradezu als ökonomischer Imperativ. Im Kontrast zur Kreativwirtschaft vermehren sich aber auch die »Bullshit-Jobs« (David Graeber), Tätigkeiten also, die nach Eigenwahrnehmung der jeweiligen Akteure und Akteurinnen völlig nutz- und sinnlos sind. Werden wir heute schon, erst recht in Zukunft, mit sozialen Verwerfungen und Bruchlinien konfrontiert, die sich nicht mehr bloß auf die wachsenden Differenzen zwischen arm und reich, sondern auch auf Sinn und Wert der Arbeit selbst beziehen? Und welche Arbeiten – zum Beispiel Hausarbeit oder Pflegedienste – werden künftig in Berechnungen des Bruttoinlandsprodukts einbezogen werden? Welche Bedeutung wird der freiwilligen Arbeit (voluntary work), im Deutschen oft unter dem absurden Titel »Ehrenamt« diskutiert, verliehen werden?
Andere Arbeit: Mit allen genannten Themen verbindet sich die Frage nach den kulturellen Gestalten der Arbeit. Unsere kapitalistische Arbeitsethik ist noch nicht sehr alt; Max Weber hat sie bekanntlich mit dem Aufstieg einer puritanisch-calvinistischen Moral assoziiert. Welche Vorstellungen werden womöglich an ihre Stelle treten? Und mit welchen Bildern werden wir tatsächlich das Andere der Arbeit beschreiben? Jüngst erst hat der französische Anthropologe Marc Augé – in seinem Manifest über L’Avenir des Terriens (2016), die Ankunft der Erdbewohner – die »Utopie der Bildung für alle« als die »einzige Utopie« bezeichnet, »die für die kommenden Jahrhunderte zählt und deren Fundamente mit aller Dringlichkeit gelegt und befestigt werden müssen«.[1] Die Forderung klingt ein wenig nach »lebenslangem Lernen«; welche anderen Formen kultureller Sinnstiftung könnten sich, nach dem »Verschwinden der Religionen«, das Augé ebenfalls für wahrscheinlich hält, durchsetzen und behaupten?
[1] Marc Augé: Die Zukunft der Erdbewohner. Ein Manifest. Übersetzt von Daniel Fastner. Berlin: Matthes & Seitz 2019. S. 21
Kulturwissenschaften müssten eigentlich Kulturen-Wissenschaften heißen: Sie handeln von Kulturen als pluralen und dynamischen Lebensformen, gekennzeichnet durch Prozesse der Bewegung, des Austauschs, der Abgrenzung, des Transfers und der wechselseitigen Beeinflussung oder Durchdringung. Der Vielfalt sozialer, politischer und religiöser Überzeugungen, die in weltweit ungefähr sechs- bis siebentausend Sprachen artikuliert werden, korrespondiert eine Vielfalt der Übersetzungsstrategien: vom Dolmetschen (konsekutiv, simultan) bis zur Übersetzung von Gebärden, schriftlichen oder audiovisuellen Dokumenten. Relevant sind die Kontexte und Genres, in Diplomatie, Recht, Religion, Verwaltung, Wissenschaft und Literatur. Zu den Übersetzungsstrategien gehört auch die Suche nach Universalsprachen, Kunstsprachen wie Esperanto, transkulturell verständlichen Zeichen- und Visualisierungssystemen (Piktogramme), Globalisierungseffekten der Zirkulation von Bildern und Musik (die schon in der Romantik gern als Weltsprache charakterisiert wurde), nicht zuletzt die Suche nach digitalen Übersetzungsalgorithmen und Computerprogrammen.
Schon das Netzwerk der frühen europäischen Kulturwissenschaften basierte nicht nur auf einer bewundernswerten Mehrsprachigkeit der Protagonisten, sondern auch auf vielgestaltigen Kulturen des Übersetzens. Es ist erstaunlich, wie wenig Aufmerksamkeit – gerade im Zuge der europäischen Integration und des Bologna-Prozesses – diese Kulturen des Übersetzens und ihre Geschichte anziehen konnten, ganz abgesehen davon, dass Übersetzer*innen häufig dem akademischen Prekariat angehören. Dabei leisten Übersetzungskulturen einen eminenten Beitrag zur Bildung transnationaler Identitäten und zur Entstehung eines miteinander geteilten oder zumindest teilbaren kulturellen Gedächtnisses. Im Mittelpunkt des Schwerpunkts zu den Kulturen der Übersetzung könnten bedeutende Übersetzungsleistungen ebenso diskutiert werden wie die Debatten um Übersetzungstheorien (etwa der Distinktion zwischen ursprungs- und zielsprachlichem Übersetzen), Fragen nach dem Unübersetzbaren, nach dem historischen Einfluss von Fehlübersetzungen oder nach dem Bemühen um Selbstübersetzung, wie es etwa Samuel Beckett in einem Brief an Alan Schneider, dem Regisseur von Film mit Buster Keaton (1965), als »usual wilderness of self-translation« beklagte.[1]
Übersetzen soll freilich nicht nur im engeren Sinn des sprachlichen Übersetzens thematisiert werden, sondern auch im Horizont eines erweiterten Übersetzungsbegriffs (analog zum erweiterten Kunstbegriff, den Joseph Beuys postulierte), der u. a. die Sozial-, Medien- und Technikgeschichte angemessen berücksichtigt, beispielsweise die Versuche, architektonische Bauten, Landschaften, Bilder oder musikalische Kompositionen in Texte, Zeichen-Diagramme und Codes zu übertragen (und umgekehrt). Dabei könnten auch ältere Diskussionen um Gesamtkunstwerke – als Integrationsversuche von Text, Bild und Musik, etwa in Opern oder Filmen – neu belebt werden. Filmische Reformen, zuletzt im Dogma-Manifest von 1995, forderten häufig eine Ästhetik der Reduktion; so schrieb Robert Bresson in seinen Notizen zum Kinematographen: »Wenn ein Ton ein Bild ersetzen kann, das Bild weglassen oder neutralisieren. Das Ohr geht mehr nach innen, das Auge nach außen. Ein Ton soll niemals einem Bild zu Hilfe kommen, ein Bild nie einem Ton. Ist ein Ton die zwingende Ergänzung eines Bildes, entweder dem Ton oder dem Bild den Vorrang geben. Im Gleichgewicht schaden sie sich oder schlagen sich tot, wie man von Farben sagt.«[2]
In den Kontext eines erweiterten Übersetzungsbegriffs sollten vorrangig auch die Diskussionen der Postcolonial Studies um einen Begriff der »kulturellen Übersetzung« (unter Bezug auf Walter Benjamins Essay Die Aufgabe des Übersetzers), Erfahrungen der Tierforschung (Animal Studies), Ethnologie, Pädagogik oder Psychotherapie gerechnet werden, die heiklen Bemühungen um die Harmonisierung von Rechtssystemen, die Arbeit mit Flüchtlingen und traumatisierten Menschen. Kurzum, der Schwerpunkt Kulturen des Übersetzens soll die Umrisse eines »translational turn«, wie ihn Doris Bachmann-Medick bereits 2006 charakterisierte,[3] explorieren und erweitern.
[1] No author better served. The correspondence of Samuel Beckett and Alan Schneider. Edited by Maurice Harmon. Cambridge (Massachusetts)/London: Harvard University Press ²1999. S. 131 (Brief vom 7. November 1962).
[2] Robert Bresson: Notizen zum Kinematographen. Herausgegeben von Robert Fischer. Übersetzt von Andrea Spingler und Robert Fischer. Berlin: Alexander Verlag 2007. S. 52 f.
[3] Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt ³2009. S. 253.